Seit der Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz ist nicht nur das Wort in aller Munde – auch die Erkenntnis, dass nichts mehr so scheint, wie es mal schien, nichts mehr so ist, wie es mal war, greift immer weiter um sich. Tempora mutantur - die Zeiten ändern sich. In der Politik ist die Erkenntnis allerdings bisher ohne Konsequenz. Wir halten an alten Systemen fest, begrenzen weiterhin mutwillig unseren Handlungsspielraum und greifen uns gegenseitig ins Steuerrad, um jede Kurskorrektur zu vermeiden. Wir wurschteln einfach weiter und verpassen wichtige Weichenstellungen.
Die Erklärung für dieses Fehlverhalten der Politik ist allerdings einfach und naheliegend. Nahezu alle notwendigen Weichenstellungen bedeuten einen Systemwechsel – das gilt in der Klimapolitik ebenso wie in der Energieversorgung, es gilt für die Außen- und Verteidigungspolitik ebenso wie für Migrationsregeln. Und es gilt für die Bildung unserer Kinder ebenso wie für die Pflege der Alten. Nicht anders ist es in der Sozialpolitik und am Arbeitsmarkt. Überall droht eine Zeitenwende – doch wer sie aktiv zu gestalten versucht, riskiert die Wiederwahl.
Im unternehmerischen Handeln gibt es in der Regel keine Wiederwahlen – es gibt nur Erfolg und Scheitern. Deshalb sind in der Wirtschaft die Bereitschaft und Fähigkeit stärker ausgeprägt, aus Zeitenwenden die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wie sehr gerade die globalen Chief Executives deshalb die Zeichen der Zeitenwende erkennen, dazu ließ vor einem Jahr die von der Beratungsgesellschaft Pwc jährlich veröffentlichte Annual Global CEO Study aufhorchen: 40 Prozent der weltweit befragten obersten Firmenlenker bezweifelten damals, dass ihr Unternehmen in zehn Jahren noch am Markt sichtbar sein wird, wenn sich die gesamte Organisation nicht grundlegend ändert. „Reinvent Yourselves“ ist folglich eine der wichtigsten Überlebensstrategien.
Diese Erkenntnis und die damit verbundene Sorge und Vorsorge scheint sich weiter fortzupflanzen. In der diesjährigen Pwc-Erhebung sind es schon 45 Prozent, die diesem Selbstzweifel beitreten. Und sie setzen mit der Frage, „Gehören wir zu den 45 Prozent der Gefährdeten oder zu den 55 Prozent der Überlebenden?“ die Tonalität für den Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Mehr Weltuntergangsstimmung war schon lange nicht mehr.
Aber es gab auch selten mehr Aufbruchstimmung in den Unternehmen! Hoffnung setzen die CEOs in die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz. 40 Prozent der Routinetätigkeiten im Unternehmen werden inzwischen als ineffizient, wenn nicht gar überflüssig wahrgenommen – angefangen bei Prozeduren und Meetings zur Entscheidungsfindung bis zum Verfassen schlichter Emails. Nach Pwc-Berechnungen könnte dieser „globale Strafzoll für Blindleistungen“ gut und gern zehn Billionen Dollar jährlich betragen. Das ist das Zwanzigfache des für 2024 vorgesehenen Bundeshaushalts. Was ist im Vergleich zu dieser Vergeudung schon ein Haushaltsloch von 60 Milliarden Euro?
Doch es ist keinesfalls selbstverständlich, diese Fantastilliarden auch tatsächlich einzusparen – selbst wenn mit Generative Artificial Intelligence das mögliche Werkzeug zur Umsetzung tatsächlich schon zur Verfügung steht? Wie schwierig ein solcher Umbau ist, zeigt aktuell der Bayer-Konzern, der Tausende von Arbeitsplätzen vor allem im Mittelmanagement abschaffen will, um Entscheidungswege zu straffen, Routinetätigkeiten zu automatisieren und Arbeitsplätze mit neuen, innovativen Qualifikationen zu schaffen. Wäre Bayer eine Demokratie, wäre die Wiederwahl des neuen CEO Bill Anderson wohl gefährdet.
Doch diese Einschnitte ins System sind notwendig und unabwendbar – früher hätte es geheißen: alternativlos. Nur so lässt sich die Zukunft erzielen. Interessant an der diesjährigen Pwc-Studie ist es, dass vor allem die Entscheider mittlerer Unternehmen um ihre Zukunftssicherheit bangen und deshalb zu Maßnahmen greifen, das eigene Geschäftsmodell zu modifizieren, Routinearbeiten an die KI zu übergeben und bisher als unüberwindbar wahrgenommene Grenzen einzureißen. Es sind hingegen die CEOs der großen Konzerne, für die es eine Titanenaufgabe darstellt, den Tanker zu wenden. Damit eröffnet sich eine attraktive Chance für den Mittelstand, der Agilität in Dynamik umsetzen und damit in einer sich ständig wendenden Zeit Wettbewerbsvorteile erzielen kann. Es kommt auf den Einsatz der richtigen Menschen, Maschinen und Methoden an.
Tempora mutantur – et nos mutamur in ilies. Die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen. Auch diese Erkenntnis ist alternativlos. Sonst droht: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Das gilt in der Politik allerdings noch eher als in der Wirtschaft.