Am 4. Februar 2014 wurde die Microsoft-Aktie bei 27 Dollar notiert. Es war der Tag davor, an dem der seit 20 Jahren bei Microsoft engagierte indisch-stämmige Satya Nadella den Anruf eines Aufsichtsratsmitglieds erhielt, ihm solle das Amt des Chief Executive Officers bei Microsoft in Redmond, Washington, übertragen werden. Nach eigener Erinnerung sagte Nadella das, was man so sagt, wenn man völlig überraschend einen solchen Spitzenjob übertragen bekommt: Er fühle sich geehrt, müsse jetzt erst einmal durchatmen und ja, er danke für das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Kaum einer unter den Microsoft-Partnern hatte damals auf diesen Namen gesetzt – und ich habe damals äußerst lukrative Wetten gewonnen…
Beim Stand von 27 Dollar übernahm Satya Nadella diesen Job. Heute, zehn Jahre später, notiert die Microsoft-Aktie bei 378 Dollar – das entspricht exakt dem 14fachen Wert der damaligen Notierung und summiert sich auf einen Börsenwert von mehr als einer Billion Dollar (One Trillion in der angloamerikanischen Notierung). Dieser unfassbare Aufstieg ist eng mit dem Namen Satya Nadella verbunden und mit einem Strategiewechsel, der wie eine Paraphrase auf George Washingtons (und später Donald Trumps) Wahlspruch „America First“ klingen sollte: „Cloud First, Mobile First!“
Dieser Technologiewechsel hat nicht nur Microsoft verändert, er hat die Welt, wie wir sie heute kennen, geprägt. Aber viel wichtiger ist womöglich der Kulturwechsel, den Satya Nadella im Juni 2015 eingeleitet hatte, indem er in einem Mitarbeiter-Rundschreiben das Mission Statement formulierte, das bis heute gilt: "Our mission is to empower every person and every organization on the planet to achieve more". (Unsere Mission ist es, jede Person und jedes Unternehmen auf dem Planeten zu befähigen, mehr zu erreichen.)
Noch wichtiger aber war der Kulturwandel nach innen: In seinem 1998 erschienen Buch „Babarians Led by Bill Gates“ prangerte der ehemalige Microsoft-Mitarbeiter Marlin Eller diese auf gegenseitige Konkurrenz zwischen Mitarbeitern und Team gerichtete Wettbewerbskultur an, die von Gates´ Nachfolger Steve Ballmer noch weiter toxisch verschärft wurde. Manu Comet, ein ehemaliger Google-Mitarbeiter, machte seine Darstellung der Organisationsstrukturen der führenden Tech-Unternehmen in lustigen schematischen Zeichnungen deutlich: Während bei Google irgendwie jeder an jeden berichtete, schossen die Microsoft-Teams mit Pistolen aufeinander. Ziel war es, die eigene Entwicklung durchzudrücken und die der anderen Teams zu desavouieren.
Satya Nadella hielt dem das Momentum der Empathie entgegen, das Interesse an den Ansichten und Zielen anderer bezeugte und in der Überzeugung gipfelte, das keine Plattform gewinnen kann, wenn die einen einzahlen und die anderen gewinnen. In dieser Überzeugung musste er freilich zunächst harte Entscheidungen treffen. Dazu gehörte die Abschreibung des 7,6 Milliarden Dollar-Investments in Nokias Mobile Phone Business, mit dem Steve Ballmer das notleidende Geschäft mit Windows Mobile und Microsoft Phones voranbringen wollte. Satya Nadella handelte nach dem bewährten Motto: „Wenn du ein totes Pferd reitest, wirf die Peitsche weg und steige ab.“
Nicht anders scheint Satya Nadella heute im Gaming-Markt vorzugehen. Nachdem er erkennen musste, dass der Plattform-Wettbewerb mit den großen Konsolen-Anbietern nicht mehr zu gewinnen war, setzte er, ohne die Xbox vom Markt zu nehmen, auf die Verfügbarkeit der Spiele über die Cloud – getreu nach dem Motto: „Cloud First, Xbox Second.“ Zwei Jahre lang musste Microsoft President Brad Smith diese Strategie vor den diversen nationalen Antitrust-Behörden erklären, ehe die Übernahme von Activision Blizzard schließlich Wirklichkeit werden konnte. Kein Wunder: Denn die auf Plattformen – sprich: Konsolen – setzende Konkurrenz sorgte sich um ihre Marktdominanz, wenn Games künftig aus der Cloud gestreamt werden. Dass dabei die Verbraucher aber mehr Plattformunabhängigkeit gewinnen würden, versuchte der Wettbewerb zu verwischen.
Es hätte Satya Nadellas Meisterstück in seiner „Cloud First“-Strategie werden können. Mit der Azure Plattform hat Microsoft in den zurückliegenden Jahren konsequent gegenüber Amazons Web Services aufgeholt. Und mit Office 365, Microsoft 365 und Dynamics 365 wurde inzwischen die gesamte Lösungspalette von Microsoft „cloudifiziert“. Dass Azure zugleich auch eine der wichtigsten Plattformen für das Internet der Dinge werden sollte, verstärkt die Position von Microsoft im Cloud-Business noch zusätzlich.
Doch inzwischen zieht eine Revolution über den Globus, die ganz wesentlich von Microsoft und der „Cloud First“-Strategie geprägt wird: der Siegeszug der künstlichen Intelligenz. Nicht nur hat Microsoft als Hauptsponsor des Startups OpenAI die Entwicklung von ChatGPT massiv vorangetrieben, sondern auch – und vor allem – die Integration des KI-gestützten Sprachassistenten in nahezu allen Microsoft-Produkten eingebaut. Dass kleinste, kleine, mittelständische und große Unternehmen diese KI-Services nutzen können, ohne in eine eigene aufwändige Infrastruktur zu investieren, ist das Ergebnis der „Cloud First“-Strategie. Oder wie es Satya Nadella selbst sagte „Wir wollen künstliche Intelligenz demokratisieren.“
Eines sollte dabei nicht übersehen werden: Satya Nadella mag in den zurückliegenden zehn Jahren die richtigen kulturellen und technologischen Weichenstellungen getroffen haben. Aber als „richtig“ haben sie sich erst durch den Markt erwiesen. Das gilt einerseits für die Partner, die Microsoft-Lösungen implementieren. Einer Daumenregel folgend generieren die mehr als 100.000 Partnerunternehmen für jeden Microsoft-Dollar Umsatz selbst zehn Dollar an Dienstleistung und Lizenzen. Dass darüber hinaus Millionen Unternehmen und Privatpersonen Microsoft-Produkte einsetzen, weil sie getreu dem Mission Statement „mehr zu erreichen“ wünschen, dann beweist das etwas anderes: Satya Nadella hat Microsoft von einem Unternehmen, das von anderen lebt, zu einer Institution umgeformt, die anderen hilft (und dabei gute Geschäfte macht), und das bedeutet einen signifikanten Paradigmenwechsel. Microsoft ist kein Unternehmen – Microsoft ist eine Branche.
Satya Nadella hat damit die Welt verändert. Und wir verneigen uns vor ihm.