Vlad Latas Bilanz fällt besorgniserregend aus: „Es gibt zu wenige Ärzte – und rund die Hälfte der medizinischen Fachkräfte werden in den nächsten zehn bis 15 Jahren in den Ruhestand gehen. Schon heute haben wir zu viele Patienten, und die Gruppe der über 67-Jährigen wird bis 2035 von 16 auf 20 Millionen wachsen. Parallel verdoppelt sich alle 73 Tage das medizinische Wissen, was kein Arzt mehr ohne digitale Hilfsmittel verarbeiten kann.“
Noch besorgniserregender ist allerdings, was Lata, Mitgründer und CEO von Avi Medical, einem Betreiber von bundesweit 17 Hausarztpraxen, an Shitsorm für sein Plädoyer zugunsten eines konsequenteren Einsatzes von künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen erntete, das er auf der Nachrichtenplattform „Welt Online“ am 29. Februar veröffentlicht hatte: „Wann bekommt man dann Post von Big Brother, dass man … seinen Social Score nicht erfüllt und daher in einer Rehabilitationseinrichtung vorstellig werden muss oder das Doppelte an Beitrag an der Krankenkasse zu bezahlen hat?“
Der Beitrag ist noch einer der harmloseren, zeigt aber ideal auf, wie weit Einsatz und Ressentiments von künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen derzeit – vor allem im Land der Nörgler und Neider – noch auseinanderklaffen. Dabei hat Vlad Lata nichts Revolutionäres vorgeschlagen, sondern nur konstatiert, dass KI als zentrales Steuerungselement Daten analysiert und dem Arzt als zuverlässiger Copilot zur Seite steht. „Durch ihre kognitiven Fähigkeiten erleichtert sie Entscheidungsprozesse und optimiert die individuelle Patientenversorgung.“
Selbst in der Ärzteschaft ist der Einsatz von KI noch immer umstritten, wenn überhaupt fundiertes Wissen über die Möglichkeiten von KI im Gesundheitswesen existiert. Zwar analysieren KI-Systeme schon seit mehr als einem Jahrzehnt Röntgenbilder, helfen bei der Suche nach neuen Wirkstoffen oder analysieren klinische Studien nach nicht offensichtlichen Erkenntnissen. Doch „zu Risiken und Nebenwirkungen“ fragen Sie derzeit am besten noch nicht Ihren Arzt, Ihre Ärztin oder in Ihrer Apotheke, sondern blättern lieber in IT-Zeitschriften. Eine Blitzumfrage in meinem persönlichen Ärzteumfeld jedenfalls machte deutlich, dass auch hier mitunter Nachholbedarf besteht.
Dabei gibt es schon heute vielfältige Einsatzmöglichkeiten, ohne dass dabei immer gleich die elektronische Patientenkarte, die für viele Wutbürger offensichtlich immer noch als Einstieg in den Überwachungsstaat gilt, bemüht werden muss:
· Krankheitsdiagnose und -erkennung: KI-Modelle werden entwickelt, um Vorhersagemodelle für die Diagnose und Erkennung von Krankheiten zu erstellen.
· Behandlungsplanung und Entscheidungsfindung: KI kann Ärzte bei der Planung von Behandlungen und der Entscheidungsfindung unterstützen.
· Arzneimittelforschung und -entwicklung: KI hilft bei der Identifizierung potenzieller Wirkstoffe und der Beschleunigung des Forschungsprozesses.
· Medizinische Bildgebung und Analyse: KI-Algorithmen können medizinische Bilder wie Röntgenaufnahmen oder MRT-Scans analysieren und Anomalien erkennen.
· Remote Patient Monitoring: KI-basierte Systeme ermöglichen die Überwachung von Patienten außerhalb des Krankenhauses, zum Beispiel durch Wearables oder mobile Apps.
Und das sind nur die – zum Teil schon seit Jahren bekannten – Basisfunktionen, bei denen künstliche Intelligenz dem Arzt oder der Ärztin bei der täglichen Arbeit helfen kann. Doch weit oberhalb dieser Chancen werden derzeit anspruchsvolle Projekte angestoßen, die zum Beispiel nicht weniger zum Ziel haben als die Verlängerung des Lebens, wenn nicht gar Unsterblichkeit. Google hat sogar eine eigene Tochterfirma zur Erforschung dieser Ziele gegründet. Es geht um die Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt altern.
Dass damit auch ethische Fragestellungen berührt werden, ist einer der Gründe für die bestehenden Ressentiments. Microsoft hat deshalb jetzt mit Health-Organisationen wie dem Boston Children´s Hospital und der Johns Hopkins Universität sowie vielen anderen Kliniken und Universitäten eine TRAIN genannte Arbeitsgruppe gegründet, die Richtlinien für verantwortungsvolle und zuverlässige KI-Lösungen erarbeiten soll. Denn eine KI kann immer nur so gut sein wie ihre Algorithmen – und die werden von Menschen gemacht.
KI steht für ein großes Versprechen im Gesundheitswesen: Medizinisches Fachwissen kann jedem Patienten auf dieser Welt zugutekommen, egal ob er in einer Arztpraxis auf dem Land, in einer Spezialklinik in der Stadt oder auf einem Medizinschiff am Golf von Guinea ärztlichen Rat benötigt. Mit KI entwickelt sich die Medizin von einer überwiegend intuitiven Fachrichtung zur exakten Wissenschaft. Sie überwindet Ärztemangel ebenso wie den Mangel an Pflegepersonal und stellt den Patienten in den Mittelpunkt. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen wir aber besser nicht die Nörgler und Nörglerinnen in diesem Land, die uns in eine Zeit von vor hundert Jahren zurückwünschen.