Bundeskanzler Olaf Scholz wünschte sich etwas mehr „Spirit für die ganze Regierung“. Wie er sich diesen Spirit vorstellte, präzisierte er dann auch gleich auf seine unnachahmlich unpräzise Weise: „Da ist was drin mit Unterhaken, auch in der Regierung.“ Dann ging er in den Osterurlaub. Doch seine Minister machten munter weiter und setzen nicht nur ihren Dauerstreit über altbekannte Themen fort, sondern fügen inzwischen auch neue Streitpunkte hinzu: Kindergrundsicherung, Bürgergeld und Rentenpaket II, Schuldenbremse, Haushaltsloch und nicht zuletzt Unterstützung für die Ukraine.
Doch ein ganz anderes „Unterhaken“ wäre jetzt vonnöten und wird von führenden Wirtschaftsvertretern auch mit zunehmender Vehemenz eingefordert. „Ich habe den Eindruck, dass der Ernst der Lage im Kanzleramt immer noch unterschätzt wird“, schreibt BDI Präsident Siegfried Russwurm im Business-Netzwerk LinkedIn und legt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung noch nach: „Wir müssen ehrlich sein: Im globalen Wettbewerb waren die letzten zwei Jahre für den Wirtschaftsstandort verlorene Jahre.“
Er ist nicht allein: auch DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben hat die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung heftig kritisiert. "Im Vergleich von vor zwei Jahren hat Deutschland unter dem Strich verloren, in der Tat", sagte Wansleben den Zeitungen der Mediengruppe Bayern, zu der die Passauer Neue Presse und der Donaukurier gehören. Verantwortlich dafür seien nicht allein die externen Einflüsse, das habe auch mit der Politik der Bundesregierung zu tun.
Denn statt einer der Hauptforderungen der deutschen Wirtschaft nachzugeben und den Bürokratieabbau massiv anzugehen, gebe es vielmehr „Regulierungen, Regulierungen, Regulieren“. Wansleben erlebt nach eigenem Bekunden „in den Reihen unserer Mitgliedsunternehmen viel Frust." Statt Unterhaken also eher "So was wie einen Vertrauensverlust in die Regierung. Man hat in den Betrieben das Gefühl, mit seinen Sorgen und Nöten von der Politik nicht wahrgenommen zu werden." Es gebe eine Empfindungs- und Kommunikationslücke.
Als Dritter schlägt schließlich Arbeitgeberpräsident Reiner Dilger Alarm. Er zeigte sich gegenüber der Bild-Zeitung „fassungslos“, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil "jetzt noch einmal massiv die Rentenausgaben erhöhen will, obwohl wir vor dem größten Alterungsschub stehen, den es jemals in Deutschland gegeben hat". Das Rentenpaket II wäre das "teuerste Sozialgesetz des Jahrhunderts", warnte Dulger. Das Vorhaben müsse daher "umgehend gestoppt werden". Es sei "unfair und ungerecht, in den nächsten 20 Jahren 500 Milliarden Euro mehr für die Rente auszugeben".
Das mögen die Rentner anders sehen – insbesondere jene, die ohnehin am Existenzminimum kratzen. Zudem ist es durchaus volkswirtschaftlich sinnvoll, die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Rentner mit mehr Masse auszustatten, um so den privaten Konsum anzukurbeln. Doch mit einem 500-Milliarden-Programm könnte man auch den wertschöpfenden Teil der Bevölkerung „unterhaken“. „Viele Maßnahmen – zum Beispiel Bürokratieabbau oder Freihandelsverträge – kosten nichts, helfen aber viel“, schreibt BDI-Präsident Russwurm. „Für anderes wiederum wird der Staat zielgerichtet Geld in die Hand nehmen müssen, um etwa in Infrastruktur und Forschung zu investieren oder die Unternehmenssteuerlast zu senken. Das sollte uns unser Industrie-, Export- und Innovationsland allemal wert sein.“
Doch die im Kanzleramt wahrgenommene Realität scheint eine ganz andere zu sein. Dort scheint man dem unsterblichen und ewig falschen Narrativ vom jammernden Kaufmann nachzuhängen, der sich selbst und die ganze Wirtschaft schlecht redet und gleichzeitig die Hand aufhält, um Steuererleichterungen, Subventionen und längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Doch das Gegenteil sei der Fall, wirbt Russwurm für mehr Verständnis: „Wirtschaft will wirtschaften, transformieren, innovieren, wachsen – lassen wir sie das doch tun!“
Der Kaufmann jammert vielleicht, weil er die Verhältnisse kennt. Aber er handelt auch, weil er die Verhältnisse ändern will. Davon hat Deutschland schon immer profitiert. Da muss man noch nicht einmal die legendäre Nachkriegszeit bemühen. Es wird Zeit für ein neues Sommermärchen: Wenn Wirtschaft und Politik einander endlich unterhaken würden. Eine Aktion, die uns wohl schon in der Merkel-Ära abhandengekommen sein muss. Es wird Zeit, sie wiederzuentdecken. Das wäre eine Form des Unterhakens, mit der Bundeskanzler Olaf Scholz in die Sommerferien gehen könnte.