Lange Zeit war im Technologiesektor alles geregelt: Die sogenannte „Weiße Ware“ – also Elektrogeräte mit Gehäuse aus weißemailliertem Blech – gehörten in die Küche, respektive Waschküche. Das Marketing musste in den fünfziger und sechziger Jahren auf die „moderne Hausfrau“ ausgelegt sein, dabei aber den „Herrn des Hauses“, der als Haushaltsvorstand das alleinige Sagen über die Finanzen hatte, positiv ansprechen. „Braune Ware“ hingegen – also meist in „Nussbaum-Furnier“ eingelegte TV-Geräte, Radios oder Plattenspieler – sollten den „technisch Interessierten“ ansprechen. Dabei waren die Produkte zunächst hochpreisig, adressierten den „gut situierten Haushalt“, und sanken in ihren Anschaffungskosten erst mit der Massenproduktion. Danach hatte sie jeder. Marketing war leicht: Schublade auf – und rein kommst du!
Vielleicht lässt sich am Personal Computer Anfang der achtziger Jahre der Wendepunkt markieren, seit dem Markteinführungsstrategien komplizierter und vor allem schneller wurden. Der PC war zunächst hochpreisig, um nicht zu sagen überteuert, und für den betrieblichen Einsatz ausgelegt. Dort konnte die Investition steuerlich abgeschrieben werden und „rechnete“ sich – auch wenn am PC kaum mehr getan wurde als man hätte auch an einer Schreibmaschine erledigen können. Dann wurde der PC massenmarktfähig, und völlig andere Nutzenargumente mussten her: Spaß, Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, Flexibilität, Modernität. Und dann hatte ihn jeder.
Seitdem, so kann man sagen, wird Technologie immer schneller zum Massenprodukt. Und seit das Internet der vorrangigste Vertriebsweg für „softe Ware“ ist, ist der Massenmarkt der Einstiegsmarkt. Das Produkt reift nach dem „Prinzip Banane“ beim Kunden und wird dann erst Business-tauglich. Bestes Beispiel: ChatGPT, der KI-gestützte Sprachassistent von OpenAI. Das Tool wurde von Anfang an für angemeldete Nutzer kostenlos zur Verfügung gestellt. Handbücher und Anleitungen gab es zunächst nicht. Jeder machte seine eigenen Erfahrungen mit künstlicher Intelligenz und kommunizierte sie. 60 Prozent der erwachsenen Deutschen hatten laut Hightech-Verband Bitkom ein halbes Jahr nach der Erstveröffentlichung von ChatGPT nach eigenem Bekunden schon mal Kontakt mit KI. Erst dann erfolgte die Eignungsprüfung fürs Büro und in der Produktion.
Wo OpenAI und deren Hauptfinanzier Microsoft vorangingen, folgten die anderen Tech-Giganten mit Hochgeschwindigkeit: Allen voran Google und sein Mutterkonzern Alphabet blasen zur Aufholjagd, obwohl – wie Microsofts CEO Satya Nadella kürzlich sinnierte – die Kalifornier alles hatten, um als erste den Markteintritt für KI zu wagen. Eines der wichtigsten und faszinierendsten Vorzeigeprojekte von Google ist DeepMind, das 2010 in Großbritannien gegründet und vier Jahre später von Google übernommen wurde. Furore machte etwa AlphaGo als Beispiel für maschinelles Lernen. Die KI, die ausschließlich darauf spezialisiert war, Go zu spielen, schlug 2015 erstmals den Europameister Fan Hui. Das Nachfolgeprodukt AlphaZero erarbeitete sich bereits die Go-Regeln und Spielzüge selbst und besiegte 2017 AlphaGo in einem „KI-Ko-Turnier“ 100 zu Null.
Andere DeepMind-Projekte brillierten bei der Analyse von Patientendaten aus dem britischen National Health System, um bei der Überwachung von Patienten mit Nierenschädigungen zu assistieren. Mustererkennung wiederum kam im englischen Fußball zum Einsatz, wo die Laufwege von Kickern aus der Premier League analysiert wurden, um die Torwahrscheinlichkeit berechnen zu können. Und im vergangenen Jahr entdeckte eine weitere DeepMind-Ausgeburt im Rahmen eines materialwissenschaftlichen Projekts 2,2 Millionen neue Kristall-Kombinationen, darunter 300.000 stabile Materialien, die zukünftig im Maschinen- und Apparatebau, bei neuen Leichtbauten oder im Bau von neuen, leistungsfähigeren Batterien genutzt werden könnten.
Das alles war Leading Edge und Bleading Edge – an der Weltspitze von Forschung und Entwicklung. Das einzige, was Google nicht tat (und das ist eigentlich ein Rätsel), war die Einführung eines massenmarkttauglichen Produkts mit dem Erfolgspotenzial von Google Search oder Google Maps. Es wird wohl als künftiges Paradebeispiel für das „Innovator´s Dilemma“ in die Marketing-Bücher Einzug finden – also für die Unfähigkeit eines Marktführers, rechtzeitig einen Nachfolger (und Konkurrenten) für seine Cash Cow zu etablieren.
Jetzt kooperiert Google mit Apple, um mit dem von Microsoft vorgelegten Tempo bei der KI-Einführung im Massenmarkt Schritt zu halten. Doch gleichzeitig wechselt einer der Gründer von DeepMind, Mustafa Suleyman, zu Microsoft, um dort den Bereich „Consumer AI“ aufzubauen. Noch ist nicht klar, wie viel Energie, Machtbefugnis und Machtmittel der Neue bei Microsoft erhält. Doch eines ist klar: Microsoft will über die Einführung der Copiloten in nahezu allen seinen Lösungsangeboten hinaus den Konsumermarkt bedienen. Dieser Massenmarkt ist zweigeteilt: Er besteht nicht nur aus Einzelpersonen, die als Konsumenten KI auf dem Smartphone, in Computerspielen, bei der Arbeit im Home Office oder bei der Steuerklärung nutzen. Er besteht auch aus den Hunderten Millionen Kleinbetrieben – angefangen beim Handwerk über Anwaltskanzleien und Arztpraxen bis zu Startups in der Seedphase.
Sie alle dürften in den kommenden Monaten Zugriff auf KI als „maßgeschneiderte Massenware“ erhalten. Der „Tipping Point“, bei dem aus einem Hype für Wenige ein Prozess entsteht, aus dem heraus „eine signifikante und oft unaufhaltsame Wirkung oder Veränderung stattfindet“, wie man im Merriam-Webster nachlesen kann, steht uns bevor. Danach ist KI ein Massenprodukt. Doch anders als bei weißer und brauner Ware wird der Markt nicht mehr hochpreisig begonnen, sondern von unten aufgerollt. Dabei geht es vor allem darum, wer schneller ist.