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Sind wir paranoid genug?

Heinz-Paul Bonn • März 01, 2021

Wir sollten uns alle eine neue Einstellung zum Thema Cyber-Security angewöhnen: Es geht nicht mehr allein um die Frage, wie wir den nächsten Angriff auf unsere IT-Infrastruktur verhindern können. Es geht mehr und mehr um die Frage, wie wir den Angriff auf uns entdecken, der mutmaßlich bereits läuft. Das ist die Erkenntnis aus dem großangelegten Cyber-Hack auf Zigtausende Unternehmen und Organisationen, der über ein korrumpiertes Update der Netzwerkmanagement-Software von SolarWinds erfolgte.

Die Selbstdiagnose der industrialisierten und zugleich auch über das Internet vernetzten Welt muss deshalb lauten: „Sind wir paranoid genug?“ Wir können nicht wachsam genug sein. Aber die erschreckende Erkenntnis ist auch: Wir sitzen weithin sichtbar am Lagerfeuer, während sich der Feind in den Büschen anschleicht. Jedes Knacken im digitalen Gehölz – um in der Karl-May-Rhetorik fortzufahren – könnte eine tödliche Bedrohung bedeuten.

Jetzt – im Morgengrauen nach dem feindlichen Überfall – beginnt das Fingerpointing. US-Senator Ron Wyden wirft Microsoft als Platzhirsch auf dem Desktop und in der Cloud vor, zu lange gezögert zu haben. Stimmt nicht, sagt Microsofts Präsident Brad Smith bei einer öffentlichen Anhörung im Capitol: man habe früh reagiert, 30 Blogs zum Thema veröffentlicht und 60 von Microsofts Azure-Kunden, darunter rund die Hälfte Telekommunikationsfirmen, vor der Gefahrenquelle gewarnt. Dagegen, so Brad Smith am vergangenen Freitag, habe sich Amazon zu den Angriffen über die Amazon Web Services noch überhaupt nicht und Google zu den Angriffen über deren Cloud-Services so gut wie nicht geäußert.

Tatsächlich scheint sich Microsoft an die Spitze der Bewegung gegen Cyber-Angriffe stellen zu wollen und startet eine publizistische Offensive für ein schärferes Bewusstsein gegenüber Attacken auf die globalen Cloud-Infrastrukturen. Dazu gehört auch, dass in den offiziellen Microsoft-Kommentaren nicht mehr vom SolarWinds-Hack die Rede ist, sondern von „Solarigate“ – eine Anleihe bei Watergate und andere „–gates“, die zu einem globalen Beben geführt haben. Der texanische Anbieter von Datenbankmanagement-Software ist denn auch wohl eher Opfer als Verursacher.

Denn – und das ist das Schlimme daran – die Manipulation an einem Software-Release, das sich durch die Update-Automatismen im Internet metastasierend ausbreiten konnte, könnte und kann jedem Internet-Anbieter passieren.

So ist es denn auch durchaus pikant, dass Amazon Web Services jetzt zugeben musste, dass die Solarigate-Hacker über die sogenannte Elastic Compute Cloud von AWS vorgegangen waren. Nach den Ermittlungen, die der US-Senator Richard Burr anstellen ließ, wurde so über das Amazon-Hosting der bösartige Code über das SolarWinds-Update auf die Systeme der Anwender eingespielt. Es wird also wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch AWS im Repräsentantenhaus vor dem Kadi aussagen muss.

Dabei ist die Schuldfrage, wer wie schnell oder ob überhaupt reagiert hat, alles andere als trivial. Es geht am Ende um die Frage, welchem Internet-Provider die Anwender noch trauen können oder wollen. Zwischen AWS und Microsoft Azure läuft ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen um Marktanteile im explosionsartig wachsenden Cloud-Geschäft. Dazu hat der Corona-Lockdown einiges beigetragen. Aber auch ohne die Virus-Pandemie ist die Cloud das alles entscheidende Business der Digitalwirtschaft.

Und genau in dieser Zeit startet Microsoft eine weitere Plattform-Offensive, um das Cloud-Business auf neue, noch tragfähigere Säulen zu stellen. Denn während viele mittelständische Betriebe gerade erst über Outsourcing nachdenken und beginnen, den eigenen IT-Betrieb in die Cloud zu verlagern, schmieden die Internet-Giganten längst Partnerschaften mit Großanwendern, um ganze Plattformen – zum Beispiel für das vernetzte Fahrzeug, für die vernetzte Fabrik oder die smarte City – zu bauen.

Microsoft legt jetzt noch einen drauf, indem CEO Satya Nadella in einer eigenen Videobotschaft drei weitere Lösungs-Plattformen für ganze Branchen ankündigte: nach Lösungen für die öffentliche Hand, den Einzelhandel und das Gesundheitswesen folgen nun Plattformen für Fertigung, Finanzdienstleistungen und gemeinnützige Organisationen. Microsoft habe, so postet Satya Nadella stolz, im zurückliegenden Jahr so ziemlich mit jeder Branche diskutiert, wie man ein auf die jeweiligen Branchen-Usancen zugeschnittenes Plattform-Portfolio aufbauen könne. Will sagen: da kommt noch mehr.

Das Angebot dürfte für viele Anwender attraktiv sein, die genug haben von teuren Releasewechseln bei ihrer Unternehmenssoftware. Insofern ist die Plattform-Offensive von Microsoft nicht nur eine Ansage gegen die Cloud-Wettbewerber, sondern auch gegen die Lösungshäuser wie SAP, Oracle oder SalesForce. Die Plattform-Ökonomie ist ein gigantisches Geschäft, das sich nicht nach Milliarden, sondern nach Billionen misst. Dabei kann ein Angriff auf das Vertrauen in die Cloud an sich, wie es die mutmaßlich 1000 Hacker, die am Solarigate-Angriff beteiligt gewesen sein sollen, offensichtlich beabsichtigten, unabhängig vom unmittelbaren Schaden das gesamte Business zerstören.

Post Scriptum: „Sind wir paranoid genug? – Diese Frage habe ich schon einmal in einem Bonnblog gestellt. Damals, im August 2017, meinte ich die beständige Sorge davor, dass Deutschland im digitalen Wettlauf abgehängt werden könnte. Knapp vier Jahre später hat sich diese Sorge zur Gewissheit verfestigt: die Deutschen sind bei der Digitalisierung längst abgehängt. Jetzt könnten allerdings viele Entscheider dieses Nachlaufen als großen Vorsprung interpretieren. Wo kein Internet, da auch kein Cyber-Hack! Doch das kann sich als folgenschwerer Irrtum erweisen. Denn ebenso gilt: Wo kein Internet, da auch kein Business. In der Tat: Man kann gar nicht paranoid genug sein.

von Heinz-Paul Bonn 13 Mai, 2024
Die Assistentin der „Rosenheim Cops“, Miriam Stockl, benutzt das Passwort „POLIZEI123“. Der Kriminalkommissar Overbeck im „Wilsberg“ hat zwar keinen Vornamen, dafür aber immerhin eine vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik als starke Sicherheitsmaßnahme eingestufte Zwei-Faktor-Authentisierung, bei der nach der Eingabe eines (geheimen) Passworts ein Bestätigungscode aufs Smartphone gesendet wird, mit dem erst der Zugang freigeschaltet werden kann. Allerdings vergisst Overbeck in einer Wilsberg-Episode das Smartphone auf dem Schreibtisch… Und da sind wir beim Problem. Die größte Gefahr für unsere informationelle Infrastruktur – vom Smartphone bis zur Kraftwerksteuerung – sitzt vor dem Bildschirm und ist fehleranfällig, vergesslich, nachlässig oder auch einfach nur dumm. Daran ändert weder der alljährliche Welt-Passwort-Tag am jeweils ersten Donnerstag im Mai etwas, noch der „Ändere-Dein-Passwort“-Tag am 1. Februar. Noch immer kleben einfache „123..“-Passworte unter der Tastatur, wird auf Zwei- oder gar Multi-Faktor-Authentisierung verzichtet, werden Endgeräte unbeaufsichtigt zurückgelassen und Phishing-Mails unbedarft geöffnet. Weil das so ist, sind Organisationen und Privatpersonen gegenüber Cyberkriminalität nur bedingt abwehrbereit. Um zu prüfen, ob die eigenen Zugangsdaten schon Teil von solchen Datenlecks waren und damit stärker gefährdet sind, lohnt sich eine Prüfung etwa beim „Have I been pwned“-Projekt [sprich: poned wie in owned] des Startups Apollo oder beim Identity-Leak Check des Hasso-Plattner-Instituts. In seiner jüngsten Studie zu Cyberkriminalität schätzt der Hightech-Verband Bitkom den in deutschen Unternehmen entstandenen Schaden auf mehr als 200 Milliarden Euro für das Jahr 2023. Und gerade bei Dienstleistungsunternehmen, die ihre Services über das Internet anbieten und eigentlich eine erhöhte Sensibilität gegenüber den Gefahren aus dem Web aufweisen sollten, häufen sich in letzter Zeit Vorfälle, bei denen Zugangsdaten abhandenkommen. Die Daten landen dann nicht selten im Darknet oder werden von Cybercrime-Clans für weitere Aktionen verwendet – zum Beispiel, um Kasse zu machen. Diese sogenannten „Credential Stuffings“ gab es Anfang des letzten Jahres beim Zahlungsdienstleister Paypal, bei dem rund 35.000 Konten geleakt wurden. Bei der amerikanischen Telefongesellschaft AT&T wurden ebenfalls Konten gehackt, über die schließlich Wallets für Krypto-Währungen geleert wurden. Und die jüngsten Vorfälle bei Microsoft machen deutlich, dass auch bei einem weltumspannenden und marktbeherrschenden Anbieter für Cloud- und KI-Computing eine Sicherheitskultur kontinuierlich nachgeschärft werden muss. Weil also auch Microsoft offensichtlich nur bedingt abwehrbereit zu sein scheint, hat CEO Satya Nadella jetzt die „Security First“-Initiative ausgerufen, die Sicherheit vor Schnelligkeit bei der Weiterentwicklung von Microsoft-Produkten stellen soll. Der Microsoft-Mitarbeiter, der anhand von einer halben Sekunde Verzögerungszeit in Entwicklungsumgebung auf einen erfolgreichen Angriffsversuch geschlossen hat und sofort die Reißleine zog, ist inzwischen ebenso legendär, wie der Mitarbeiter, der vor zu großen Gefahren warnte und dafür entlassen wurde. Beides spiegelt unser schwieriges Verhältnis zur Sicherheit wider. Wer bei Gefahren eingreift und hilft, wird als Held gefeiert. Wer vor Gefahren warnt, gilt als Kassandra, deren Warnungen vor dem Untergang Trojas niemand Gehör schenken wollte. Auch Troja war insofern nur bedingt abwehrbereit. Wir schätzen Fahrzeuge mit hoher passiver Sicherheit, sind aber selten selbst bereit, aktiv etwas für unsere Sicherheit zu tun – etwa durch Einhaltung des Sicherheitsabstands. Seit Januar 1974 ist der Sicherheitsgurt im Auto Pflicht – und während dieser erzwungene Einbau von den Autofahrern positiv gesehen wurde, brauchte es noch zwei Jahre, bis die Anschnallpflicht auch die letzten murrenden Gurtmuffel dazu zwang, den Gurt auch tatsächlich anzulegen. In den achtziger Jahren gingen die Deutschen auf die Straße, weil sie ihre Sicherheit durch die Stationierung von Atomwaffen im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses gefährdet sahen. Heute flammt die Diskussion um Bewaffnung mit Atomwaffen und anderem Kriegsgerät zur Verteidigung wieder auf, weil wir uns ohne diese Militärausgaben unsicher fühlen und offensichtlich wieder einmal nur bedingt abwehrbereit sind. Mit „Bedingt abwehrbereit“ betitelte die Spiegelredaktion vor 62 Jahren ihren Beitrag um die Grenzen der Wehrfähigkeit in der Bundeswehr und der Nato im Falle eines dritten Weltkriegs. Damit begann die sogenannte Spiegel-Affäre, die mit Durchsuchungen des Redaktionsgebäudes, Verhaftung von Rudolf Augstein unter dem Vorwurf des Landesverrats und später mit dem Rücktritt des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz-Josef Strauß ihren historischen Verlauf nahm. Zwar waren die Informationen über die Nato-Übung Fallex, die im Spiegel veröffentlicht wurden, durchaus zutreffend, doch hinter der Aktion stand offensichtlich eine Desinformationskampagne des russischen KGBs, die das Ziel hatte, den erklärten Antikommunisten Strauß zu desavouieren. Der Spiegel hätte sich, wie man heute annimmt, nicht wissentlich zum Spielball der kommunistischen Spionagetätigkeit machen lassen, weil die Redaktion wohl selbst nur bedingt abwehrbereit gewesen sein wird. Allzu viel hat sich im Vergleich zu heute also nicht geändert. Heute wird für diesen – erneut zutreffenden – Vorwurf der bedingten Abwehrbereitschaft niemand mehr des Landesverrats bezichtigt. Landesverrat begehen hingegen jene, die sich für ausländische Mächte einspannen lassen, Wirtschaftsgeheimnisse an internationale Wettbewerber weitergeben und Einzelheiten aus der politischen Arbeit ausplaudern. Die aktuellen Beispiele, in denen für Russland und China spioniert wurde, nennen zwar die üblichen Verdächtigen. Doch auf dem Höhepunkt der NSA-Abhöraktion prägte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Satz über unsere US-amerikanischen Verbündeten: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“ Doch das geht. Wie sich zeigt, sind wir auch gegenüber Spionage nur bedingt abwehrbereit. Wir müssen auf allen Ebenen unser Sicherheitsbedürfnis, unser Sicherheitsverhalten und unsere Sicherheitsvorsorge überdenken. Denn Sicherheit ist noch lange nicht sicher. Wir müssen paranoider werden. Jeder Einzelne muss unbedingt abwehrbereit werden. Mit Sicherheit. 
von Heinz-Paul Bonn 06 Mai, 2024
Wenn ein Straßenbauunternehmen in Deutschland einen Autobahnabschnitt baut, dann hat es sein Geld schon verdient, wenn das Teilstück dem Verkehr übergeben wird. Ob die Straße intensiv genutzt wird, ist nicht entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg der Baufirma. Ob es sich bei dem Bauprojekt möglicherweise um verschleudertes Steuergeld handelt, beschäftigt dann erst Jahre später die Politik und die Rechnungshöfe. Seit der Straßenbau vor rund 100 Jahren in den USA als Kernstück des New Deals und somit als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vorangetrieben wurde, ist der Ausbau des Straßennetzes eine staatliche Hoheitsaufgabe. Auch im Deutschland der 1930er Jahre wurde der Autobahnbau als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme betrieben, wobei übrigens das erste Autobahnstück nicht den Nazis zugeschrieben werden kann, sondern dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer… Dabei sind es vor allem Unternehmen und ihre wirtschaftlichen Pioniere, die den Ausbau von Infrastrukturen antreiben. Das US-amerikanische Schienennetz konnte nur so schnell entstehen, weil Eisenbahn-Magnaten wie Cornelius Vanderbilt oder Andrew Carnegie Geschäftsmodelle entwickelten, die auf der Nutzung der Schienen als Bauprojekt und Transportservice beruhten. John D. Rockefeller baute nicht nur das erste vertikal integrierte Unternehmen auf, das praktisch alle Produktionsschritte von der Ölexploration über die Förderung bis zum Tankstellennetz der Standard Oil (EssO) unter einen Hut brachte, sondern schuf durch günstige Verbraucher wie zum Beispiel kostenlose Öllampen überhaupt erst die Nachfrage für sein Petroleum. Der Niedergang ihrer Konzerne erfolgte interessanterweise immer, nachdem der Staat regulierend eingriff. Nicht anders verlief der Ausbau der Infrastruktur für Elektrizität und Telegrafie. Und nichts anderes scheint sich derzeit beim Ausbau unseres wohl wichtigsten Netzwerks, dem Internet, zu vollziehen. Ob Elon Musk mit Starlink Tausende Satelliten in den Orbit schickt, um Empfang und Bandbreite auch in entlegenen Gegenden dieser Erde möglich zu machen, oder ob Microsoft mit Milliardenaufwänden rund um den Globus Hyperscaler installiert, um der gestiegenen Nachfrage nach Cloud-Rechenzentren und KI-Rechenleistung zu begegnen – überall zeigt sich, dass die Wirtschaft schafft, wo die Politik nicht tickt. Allein Microsofts jüngstes Investment im Rheinischen Revier übersteigt das staatliche Engagement in KI-Forschung und -Entwicklung, das darüber hinaus auch noch auf fünf Jahre gestreckt ist. Doch damit nicht genug: Konzerne wie Siemens bauen eigene Kindergärten, gründen Bildungseinrichtungen und investieren in die lokale Verkehrsinfrastruktur. Im Zuge der Energiewende sind es die Unternehmen, die ihre Energieversorgung auf Erneuerbare umstellen und ihre Produktionsprozesse auf Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit trimmen. Sie tun dies auch dann, wenn staatliche Anreize wegen der Schuldenbremse ausbleiben. Das Risiko liegt bei den privaten Investoren, nicht in der öffentlichen Hand. Denn sollte sich – was viele noch für wahrscheinlich halten – künstliche Intelligenz als eine zu Unrecht gehypte Technologie erweisen, dann sind es die Tech-Giganten, die auf ihren Milliarden-Abschreibungen sitzenbleiben. Wenn Microsoft in Dänemark nicht nur in diesen Tagen ein Cloud-Rechenzentrum eröffnet, sondern zugleich einen ganzen Stadtteil mit Fernwärme versorgt, dann liegt das an der gesellschaftlichen Verantwortung, die von Unternehmen mehr und mehr wahrgenommen wird. Wo der Staat nicht kann oder will, kann und will die Wirtschaft – vorausgesetzt, es besteht ein geeignetes Geschäftsmodell, das Gesellschaftern, Investoren oder Aktionären die erhoffte Rendite verspricht. Wo das nicht besteht, erleiden Infrastrukturen einen schleichenden Abbau, wie die Beispiele der nicht gewinnorientierten britischen Railtrack und der Deutschen Bahn zeigen. Wir brauchen eine Industriepolitik, die zugleich Infrastrukturförderung ist. Dann müssen wir auch weniger Geld für Umverteilung und soziale Sicherung reservieren – inzwischen der bei weitem größte Teil des Bundeshaushalts. Stattdessen werden immer neue Bürokratiemonster entworfen wie die Planung von 5000 Stellen für die Verteilung der Kindergrundsicherung oder die Nachweispflichten im Lieferkettengesetz. Es ist faszinierend, dass Corporate Social Responsibility schneller und effizienter zur Verbesserung eines sozialen Umfelds in der Umgebung eines Unternehmens führen kann, als es durch kommunale Initiativen gelingt. Doch der Vorwurf, mit philanthropischen Aktivitäten nur eigene Vorteile unterstützen zu wollen, um Profit und Marktmacht zu stärken, ist immer noch schnell bei der Hand. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird schnell bemüht, wenn ein Tech-Gigant Dienste gegen Daten anbietet. Das Argument vom Verlust der informationellen Souveränität ist schnell bei der Hand, wenn sich ein IT-Service als so erfolgreich erweist, dass ihn alle nutzen wollen. Hinter diesem Misstrauen mögen stets gute Absichten stecken. Doch der Ausbau unserer Infrastruktur und damit unserer Wirtschaftskraft gelingt nicht, wenn wir dies der Politik überlassen. Jedes Schlagloch auf unseren Straßen gibt darüber beredt Auskunft. Es wird Zeit etwas weniger Politik und dafür etwas mehr Wirtschaft zu wagen.
von Heinz-Paul Bonn 29 Apr., 2024
Die Aussichten sind bescheiden – das kann auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nicht schönreden. Wir müssen zufrieden sein, wenn die wirtschaftliche Entwicklung im laufenden Jahr stagniert und die Wirtschaftsleistung nicht weiter zurückgeht. „Negatives Wachstum“ nennt man das gerne euphemistisch, weil Schrumpfen einfach nicht ins Vokabular von Politikern zu gehören scheint. Auch wenn der Bundeswirtschaftsminister letzte Woche für das kommende Jahr leichte Verbesserungen prognostiziert – langfristig bleiben die Aussichten trist. Das Wachstumspotenzial wird für die kommenden Jahre auf gerade einmal 0,6 Prozent geschätzt. Deutschland steckt in einer veritablen Krise. „Die Situation ist so anspruchsvoll, dass wir uns nicht zurücklehnen dürfen, sondern weiter hart arbeiten müssen“, sagt Habeck bei seinem Auftritt vor der Bundespressekonferenz. Und dann folgt ein Satz, der aufhorchen lässt: „Darauf haben, denke ich, Herr Russwurm und die deutsche Wirtschaft hingewiesen, und das sieht niemand in der Regierung anders.“ Wirklich? Gehört der deutsche Bundeskanzler etwa nicht zur Regierung – steht er über ihr, aber nicht in ihr? Es wurmt ganz einfach, wenn ernstgemeinte und staatstragende Reformvorschläge aus der Wirtschaft abgetan werden als Klage, die das Lied des Kaufmanns sei. Mit dieser – bei allem Respekt, Herr Bundeskanzler – Plattitüde kann man nun wirklich keine Wirtschaftspolitik betreiben, wie sie uns beispielsweise die Biden-Regierung mit dem Wirtschaftsförderungsprogramm IRA vormacht. Der amerikanische Kaufmann klagt nicht, weil seine Regierung handelt. Die Klage vom ewig klagenden Kaufmann sitzt tief, sie wurmt! Erstmals öffentlich vorgebracht hatte sie der Kanzler auf der Handwerksmesse in München Anfang des Jahres. Dort hatten die führenden Wirtschaftsverbände ein Zehn-Punkte-Papier vorgelegt, um von Bürokratieabbau bis Fachkräftemangel alle Themen zu diskutieren, die der deutschen Wirtschaft unter den Fingernägeln brennt. Doch dazu kam es nicht: Der Kanzler stimmte sein geflügeltes Wort vom klagenden Kaufmann an und ging weiter. Außer Spesen nichts gewesen. Dem Handelsblatt offenbarten jetzt zahlreiche Konzernchefs aus dem DAX, dass Wirtschaftstreffen mit dem Bundeskanzler meist ergebnislos enden und argumentativ im Sande verlaufen. „Die Erwartung ist gering, dass sich wirklich was bewegt“, wird ein DAX-Vorstandschef anonym zitiert. Wie das aussieht, lässt sich praktisch minutiös nachverfolgen. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung fasste BDI-Präsident Russwurm die Halbzeitbilanz der Ampel mit den Worten zusammen, es seien „zwei verlorene Jahre“ gewesen. Der Kanzler konterte postwendend, es handele sich bei der Politik unter seiner Führung um längst eingeleitete Reformen. Der Beweis: mit der Abschaffung der EEG-Umlage habe er für Entlastungen in Höhe von 20 Milliarden Euro gesorgt. Wo, bitteschön, bleibe da der Dank? Zugegeben: das hat zahllosen vor allem mittelständischen Unternehmen Luft verschafft – angesichts explodierende Strom- und Gaskosten. Aber damit verbindet sich keine strukturelle Reform, keine Verbesserung der Infrastruktur, keine Senkung des Bürokratieaufwands, keine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, keine Verbesserung der Wettbewerbssituation. Doch wer darauf hinweist, macht sich des Vorwurfs schuldig, den Standort Deutschland schlecht zu reden. „Wenn Sie mich fragen, lieber Herr Russwurm, dann waren das zwei Turnaround-Jahre“, wiederholt der Bundeskanzler sein Selbstlob zum Auftakt der Hannover Messe Industrie. Sodann kanzelte der Kanzler den BDI-Präsident öffentlich ab: „Kleine Bitte, lassen Sie uns den Wirtschaftsstandort Deutschland stark machen und nicht schlechtreden.“ Wer den Wirtschaftsstandort Deutschland stark macht, zeigten daraufhin Austeller aus Deutschland in den Messehallen und auf dem Freigelände. Bei seinem Messe-Rundgang holte den Kanzler seine Klage über die Kaufmannsklage wieder ein: „Das Lied der Industrie sind Lösungen“ hieß es vieldeutig beim hessischen Mettalunternehmen Rittal. Und genau darum geht es: Wir brauchen Lösungen und keine Rechthaberei. Doch „die Wirtschaft dringt mit ihren Sorgen und Rufen in der Bundesregierung nicht mehr durch“, resümierte BASF-Chef Martin Brudermüller in einem Handelsblatt-Interview. Es wurmt! Und man könnte sich den Mund abputzen und zur Tagesordnung zurückkehren. Doch die Herausforderungen, vor denen die deutsche Wirtschaft steht, sind Teil dieser Tagesordnung, vor der niemand weglaufen kann. Während sich die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel noch auf steigenden Wirtschaftszahlen ausruhen konnte – auch weil die Wirtschaft von billigem russischem Gas und einer prosperierenden Wirtschaftsmacht China profitierte – und das „Aussitzen“ weitgehend folgenlos blieb, kann sich die aktuelle Bundesregierung auf vergleichbaren positiven Effekten nicht ausruhen. Wer da mahnt, redet nicht den Standort schlecht, sondern ruft zur Besserung auf. Wer sich dagegen taub stellt, lässt zumindest zu, dass es dem Standort nicht besser geht. Das wurmt in der Tat. 
von Heinz-Paul Bonn 22 Apr., 2024
Es ist der ganz große Auftritt von Mario Adorf als Fabrikant Heinrich Haffenloher in der wunderbaren TV-Serie „Kir Royal“ um den Münchner Klatschkolumnisten Baby Schimmerlos: „Ich kauf dich einfach. Ich kauf dir ´ne Villa, da stell ich dir dann noch ´nen Ferrari davor. Deinem Weib schick ich jeden Tag ´nen Fünfkaräter. Ich schieb es dir hinten und vorne rein. Ich scheiss´ dich sowas von zu mit meinem Geld, dass du keine ruhige Minute mehr hast. Ich schick dir jeden Tag Cash – im Koffer. Das schickste zurück – einmal, zweimal, vielleicht sogar ´n drittes Mal. Aber ich schick´ dir jedes Mal mehr... und irgendwann kommt dann nun einmal der Punkt, da biste so mürbe und so fertig und die Versuchung ist so groß, dann nimmstes. Und dann hab´ ich dich. Dann gehörste mir. Dann biste mein Knecht. Dann mach´ ich mit dir watt ich will.“ (Nachzuhören unter diesem Link .) Dieses Bild wird auch heute noch gerne im Vorabendprogramm der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender bemüht, wenn es um die politische Einflussnahme von Unternehmerinnen und Unternehmern geht. Doch die Mär vom die eigenen Interessen verfolgenden Firmen-Clan wird durch ständige Wiederholung nicht zutreffender. Im aktuellen Deutschen Bundestag sind 51 der 735 Abgeordneten Firmenchefs oder –chefinnen. Im Vorgängerparlament waren es noch 76 von 709 Abgeordneten. Nicht eingerechnet sind Selbständige wie Rechtsanwälte oder Ärzte. In den kommunalen Parlamenten – in Städte- und Gemeinderäten, in den Kreis- und Landtagen – sieht die Beteiligung nicht besser aus. Dennoch überlebt das Bild vom ewig mauschelnden und klüngelnden, in jedem Fall seine Interessen wahrenden „Strippenzieher“. Dabei wäre mehr „unternehmerischer Sachverstand“ in unseren politischen Gremien durchaus wünschenswert. Es geht schließlich um Gestaltung und die dafür nötigen finanziellen und organisatorischen Mittel. Wer könnte dies besser – und vor allem ohne großen Bürokratieaufwand – in die Wege leiten als mittelständische Firmenlenker? Doch Firmen wirken offensichtlich auch ohne aktive Beteiligung in den politischen Raum hinein. Eine bemerkenswerte Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft weist eine frappierende Korrelation zwischen der lokalen Existenz von Familienunternehmen – und damit der in den jeweiligen Wahlkreisen wohnenden Beschäftigten – und dem Wahlverhalten nach. Die Studie erklärt mit wissenschaftlich stichhaltigen Methoden das gute Abschneiden von FDP und Union in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil an Familienunternehmen: „Bei einer höheren Lebenszufriedenheit dürften Parteien aus dem konservativ-liberalen Spektrum profitieren – und dementsprechend die SPD verlieren.“ Die Autoren schlussfolgern weiter: „Es ist denkbar, dass die Arbeitsplatzsicherheit in Familienunternehmen höher ist oder als höher empfunden wird. Entsprechend würde die soziale Absicherung bei der Wahlentscheidung in den Hintergrund treten. Arbeitnehmer in Familienunternehmen mögen zudem eine höhere Lebenszufriedenheit aufweisen, wenn sie sich stärker mit ihrem Arbeitgeber identifizieren oder wenn das Familienunternehmen durch gesellschaftliches Engagement die Lebensqualität vor Ort erhöht.“ In einer Studie des Stifterverbands zeigt sich, dass Unternehmen ganz allgemein politischer werden. Der Begriff der Corporate Political Responsibility“ – also der aktiven Wahrnehmung politischer Verantwortung – gewinnt an Bedeutung. Das zeigt sich in vielen Facetten. So ist die Weigerung eines niederländischen Unternehmens, Rollrasen für die Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar zu liefern, legendär. „Neben dem gut geführten Unternehmen, das erfolgreich agiert, professionalisiert sich immer mehr auch die ökologische und soziale Positionierung“, fassen die Autoren in ihrem Diskussionspapier zusammen. Sie stellen allerdings auch fest, dass „die Firmenlogos nicht überall in Regenbogenfarben erstrahlen“. Oder wie es das Handelsblatt in einer Kommentierung formuliert: „Die Konzerne zeigen ihre politische Haltung nur in jenen Ländern, in denen es ihnen kommerziell nicht wehtut." Aber dennoch: Immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmer zeigen Haltung. Das hat in Familienunternehmen, die mit ihrer Kommune, mit ihrer Region aufs engste verbunden sind, Tradition. Es zeigt sich aber mehr und mehr in politischen Aktivitäten, die über die sogenannten ESG-Kriterien – also Environment, Social, Gouvernance – hinausgehen. Als Microsofts Präsident Brad Smith zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz das Investment von 3,2 Milliarden Euro in Deutschland bekanntgab, ging es nicht nur um den Bau von Hyperscalern und die Qualifizierung von Menschen in Sachen KI. Es ging auch um „das Vertrauen in Deutschland“, wie es hieß. Wenige Tage später, als ein vergleichbares Engagement in Spanien angekündigt wurde, war Brad Smith sogar noch deutlicher: „Unsere Investition geht über den Bau von Rechenzentren hinaus. Sie ist ein Beweis für unser 37jähriges Engagement in Spanien, für die Sicherheit des Landes, die Entwicklung und die digitale Transformation in Spanien, für die Unternehmen und die Bevölkerung.“ Dass ein Konzern einem Land gute Noten attestiert, ist in der Tat eine neue Phase in der politischen Beteiligung von Unternehmen. Inzwischen geht Microsoft sogar noch weiter und unterstützt im vielsprachigen Indien die Beteiligung der Bevölkerung an der Bildungsgesellschaft, indem dort KI-gestützte Übersetzungswerkzeuge für praktisch jeden indischen Dialekt bereitgestellt werden. In Australien und Neuseeland hat Microsoft zusammen mit lokalen Organisationen das gewinnorientierte Unternehmen Indigital gegründet, das sich im indigenen Besitz befindet. Indigital nutzt digitale Technologien wie künstliche Intelligenz, erweiterte oder gemischte Realitäten als Weg, um das indigene Erbe zu erlernen und es nutzt die Kultur der First Nations, um digitale Fähigkeiten als Weg in die Zukunft der Arbeit zu vermitteln. Das beginnt bereits in den Schulen, wo indigene und nicht-indigene Kinder die Chance haben, kulturelles Wissen, ihre Geschichte und ihre Sprache zu lernen, während sie gleichzeitig digitale Fähigkeiten in Spitzentechnologien wie Augmented Reality und Coding erlernen. Überall auf der Welt greifen Tech-Unternehmen immer tiefer in die politische Gestaltung der Länder ein, in denen sie aktiv sind. Es ist eine Entwicklung, die jeder Unternehmer, jede Unternehmerin für sich entdecken sollte. Mario Adorfs Heinrich Haffenloher hatte nur seine persönlichen Interessen im Blick. Aber das Unternehmertum von heute verbindet seine kaufmännischen Ziele mit den Interessen des Gemeinwohls – und greift dabei der oft hilflosen oder zumindest glücklosen Politik unter die Arme. Mehr unternehmerischer Sachverstand muss sich nicht auf Parlamente beschränken. Die Zahl der möglichen Initiativen ist riesig – von A wie Aufforstung bis Z wie Zukunftssicherung. Deshalb: Werdet politischer! Ich weiß aus meinem persönlichen Umfeld, dass mittelständische Unternehmer dazu neigen, ihr soziales und politisches Engagement eher im Verborgenen auszuüben und viele großherzige Initiativen kaum oder gar nicht erwähnt haben wollen. Das halte ich in diesen Zeiten für nicht richtig. Schreiben Sie mir von Ihren politischen Aktivitäten und sozialen Initiativen. Wir brauchen eine Plattform für diese Leistungen. Deshalb noch einmal: Werdet politischer!
15 Apr., 2024
Wenn wir etwas groß oder großartig nennen wollen, dann neigen wir zur Vorsilbe „mega“. Auf die Idee, etwas „kilo“ – also das Tausendfache – zu nennen sind wir nie gekommen. Auch das Milliardenfache – also „giga“ – hat es außer beim „Gigantismus“ nicht in unseren Sprachgebrauch gebracht. Ganz zu schweigen von Zetta oder Peta. Dabei sind wir längst in diesen Dimensionen angekommen. Doch die Eindrücke des soeben erlebten Konzerts von Taylor Swift „peta“ zu nennen, würde uns nicht einfallen – obwohl die Pop-Ikone längst zu den Milliardären gehört, also kein „Megastar“ ist, sondern ein „Gigastar“. Unsere globale Infrastruktur misst sich längst nicht mehr nur in gängigen Größenordnungen: Allein in Deutschland fahren täglich 51.000 Züge für Personen und Güter auf dem etwas mehr als 38.000 Kilometer großen Schienennetz, das entspricht also 38 Megametern. Doch schon gegen das Straßennetz sieht die Schiene zwergenhaft aus: Mit rund 630 Megametern liegt das deutsche Straßennetz weltweit auf Platz 13. Für deren Erhalt wurden im vergangenen Jahr 8,4 Giga-Euro aufgewendet – zu wenig angesichts der maroden Brücken und Schlaglöcher im Asphalt. Spitzenreiter sind nicht überraschend die USA, deren Straßennetz 6,5 Gigameter beträgt, gefolgt von Indien mit 4,7 Gigametern. Doch was ist das alles gegenüber unserer digitalen Infrastruktur. Allein zwischen 2010 und 2020 wuchs der jährliche Speicherbedarf für Daten von zwei auf 44 Zettabyte – das sind also 44 Billionen Gigabyte oder eine 44 mit 21 Nullen. Inzwischen hat sich der Speicherbedarf erneut verdoppelt. Und bis zum Jahr 2028 wird sich der Bedarf erneut mehr als verdoppelt haben - auf dann knapp 200 Zettabyte. Der größte Teil dieses Speicherbedarfs – und des damit verbundenen Rechenbedarfs – wird von rund 800 Großrechenzentren bedient. Die wenigsten dieser sogenannten Hyperscaler befinden sich in öffentlicher Hand. Die meisten stehen in den USA – sie repräsentieren etwa 40 Prozent des weltweiten Bedarfs an Computerleistung. Man muss sich diese Größenordnungen verdeutlichen, um zu verstehen, wie umfassend der Paradigmenwechsel ist, der sich unmerklich, aber unaufhörlich im Ausbau und der Pflege unserer Infrastrukturnetze vollzogen hat. Während sich der Staat noch auf die hoheitlichen Aufgaben besinnt, unser Schienen-, Wasser- und Asphaltstraßen-Netz, sowie Elektrizitäts-, Gas-, Wasser- und Abwassernetz zu finanzieren, ist er bei der digitalen Infrastruktur nahezu außen vor. Der zögerliche, allmählich aber vollzogene Ausbau unseres Telekommunikationsnetzes mit Glasfaserkabeln zeigt allerdings, dass staatliche Organisationen auch nicht optimal ausgerichtet sind, um eine schnell wachsende Infrastruktur aufzubauen. Umgekehrt sollte uns der Niedergang der englischen Eisenbahnen auch davor warnen, alles der privaten Wirtschaft zu überlassen. Aber wenn allein Microsoft – wie vielfach berichtet – 3,2 Milliarden Euro in deutsche Cloud-Rechenzentren investieren will, dann steht das schon in der gleichen Größenordnung wie die 8,4 Milliarden Euro, die die öffentliche Hand im vergangenen Jahr für das gesamte Straßennetz aufgewendet hat. Weltweit beläuft sich das derzeit kommunizierte Investment von Microsoft auf rund 50 Milliarden Dollar, wodurch Cloud- und KI-Infrastrukturen in den USA, in Europa, Südostasien und Ozeanien ausgebaut werden. Hinzu kommen geschätzte 100 Milliarden Dollar, die Microsoft und das KI-Startup OpenAI unter dem Projektnamen „Stargate“ in einen völlig neuen Supercomputer investieren wollen, der künftige KI-Entwicklungen beschleunigen soll. Plus die noch einmal in dieser Größenordnung geschätzten Aufwendungen für die Weiterentwicklung (und Marktreife) von Quantencomputern. Und Microsoft ist bei weitem nicht allein: 87,9 Milliarden Dollar generiert Microsoft nach eigenem Geschäftsjahresbericht mit der Cloud. 90,8 Milliarden Dollar sind es laut deren Geschäftsjahresbericht bei Amazon. Die Google-Mutter Alphabet kommt nach ihren eigenen Zahlen auf 33 Milliarden Dollar. Gedeckt werden diese Umsatzzahlen durch weltweit steigenden Bedarf an Cloud-Diensten, die vom Handwerksbetrieb über mittelständische Unternehmen bis zum globalen Konzern nachgefragt werden. Und nicht zuletzt sind es die privaten Nutzer die mit ihren 5,1 Milliarden weltweit aktiven Smartphones-Accounts Cloud- und KI-Leistungen abrufen. Und es sind die Millionen vernetzten Autos, die auf der durch private Anbieter voll ausgebauten Datenautobahn mit Navigationshilfe an den Staus vorbeifahren, die durch schlecht ausgebaute Straßen, marode Brücken oder ausgefallene Zugverbindungen entstehen. Wir leisten uns staatliche Misswirtschaft in den primären Hoheitsgebieten der Daseinsvorsorge, während gleichzeitig von den Ländern beauftragte Datenschützer vor der Vorherrschaft privater Tech-Anbieter in der digitalen Infrastruktur warnen. Und wir leisten uns eine Schuldenbremse, die unsere Kinder zwar vor neuen Schulden schützen soll, dabei aber genau jene Infrastrukturverbesserungen verhindert, die eigentlich die wirtschaftlichen Potentiale bieten könnte, mit denen dieser Schuldenberg auch wieder abgebaut werden könnte. Wir müssen uns fragen: Wer spinnt unser Netz der Zukunft? Sind es die privaten Anbieter – dann könnten wir zuversichtlich sein, dass es gelingt. Sollte es die öffentliche Hand sein – dann beginnt die Zukunft wahrscheinlich erst später. Oder gelingt es uns, Finanzierung und Genehmigungsverfahren zu optimieren? Und könnte das nicht auch ebenso für die Energiewende gelten? Oder für den Kampf gegen den Klimawandel? Unser Straßen- und Schienennetz ist nun wirklich kein Empfehlungsschreiben für die öffentliche Hand. Die Erneuerung unserer Infrastrukturen – und erst recht ihr Ausbau – sind nicht Megaprojekte, sondern im wahrsten Sinne des Wortes giga-ntisch.
von Heinz-Paul Bonn 08 Apr., 2024
Bundeskanzler Olaf Scholz wünschte sich etwas mehr „Spirit für die ganze Regierung“. Wie er sich diesen Spirit vorstellte, präzisierte er dann auch gleich auf seine unnachahmlich unpräzise Weise: „Da ist was drin mit Unterhaken, auch in der Regierung.“ Dann ging er in den Osterurlaub. Doch seine Minister machten munter weiter und setzen nicht nur ihren Dauerstreit über altbekannte Themen fort, sondern fügen inzwischen auch neue Streitpunkte hinzu: Kindergrundsicherung, Bürgergeld und Rentenpaket II, Schuldenbremse, Haushaltsloch und nicht zuletzt Unterstützung für die Ukraine. Doch ein ganz anderes „Unterhaken“ wäre jetzt vonnöten und wird von führenden Wirtschaftsvertretern auch mit zunehmender Vehemenz eingefordert. „Ich habe den Eindruck, dass der Ernst der Lage im Kanzleramt immer noch unterschätzt wird“, schreibt BDI Präsident Siegfried Russwurm im Business-Netzwerk LinkedIn und legt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung noch nach: „Wir müssen ehrlich sein: Im globalen Wettbewerb waren die letzten zwei Jahre für den Wirtschaftsstandort verlorene Jahre.“ Er ist nicht allein: auch DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben hat die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung heftig kritisiert. "Im Vergleich von vor zwei Jahren hat Deutschland unter dem Strich verloren, in der Tat", sagte Wansleben den Zeitungen der Mediengruppe Bayern, zu der die Passauer Neue Presse und der Donaukurier gehören. Verantwortlich dafür seien nicht allein die externen Einflüsse, das habe auch mit der Politik der Bundesregierung zu tun. Denn statt einer der Hauptforderungen der deutschen Wirtschaft nachzugeben und den Bürokratieabbau massiv anzugehen, gebe es vielmehr „Regulierungen, Regulierungen, Regulieren“. Wansleben erlebt nach eigenem Bekunden „in den Reihen unserer Mitgliedsunternehmen viel Frust." Statt Unterhaken also eher "So was wie einen Vertrauensverlust in die Regierung. Man hat in den Betrieben das Gefühl, mit seinen Sorgen und Nöten von der Politik nicht wahrgenommen zu werden." Es gebe eine Empfindungs- und Kommunikationslücke. Als Dritter schlägt schließlich Arbeitgeberpräsident Reiner Dilger Alarm. Er zeigte sich gegenüber der Bild-Zeitung „fassungslos“, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil "jetzt noch einmal massiv die Rentenausgaben erhöhen will, obwohl wir vor dem größten Alterungsschub stehen, den es jemals in Deutschland gegeben hat". Das Rentenpaket II wäre das "teuerste Sozialgesetz des Jahrhunderts", warnte Dulger. Das Vorhaben müsse daher "umgehend gestoppt werden". Es sei "unfair und ungerecht, in den nächsten 20 Jahren 500 Milliarden Euro mehr für die Rente auszugeben". Das mögen die Rentner anders sehen – insbesondere jene, die ohnehin am Existenzminimum kratzen. Zudem ist es durchaus volkswirtschaftlich sinnvoll, die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Rentner mit mehr Masse auszustatten, um so den privaten Konsum anzukurbeln. Doch mit einem 500-Milliarden-Programm könnte man auch den wertschöpfenden Teil der Bevölkerung „unterhaken“. „Viele Maßnahmen – zum Beispiel Bürokratieabbau oder Freihandelsverträge – kosten nichts, helfen aber viel“, schreibt BDI-Präsident Russwurm. „Für anderes wiederum wird der Staat zielgerichtet Geld in die Hand nehmen müssen, um etwa in Infrastruktur und Forschung zu investieren oder die Unternehmenssteuerlast zu senken. Das sollte uns unser Industrie-, Export- und Innovationsland allemal wert sein.“ Doch die im Kanzleramt wahrgenommene Realität scheint eine ganz andere zu sein. Dort scheint man dem unsterblichen und ewig falschen Narrativ vom jammernden Kaufmann nachzuhängen, der sich selbst und die ganze Wirtschaft schlecht redet und gleichzeitig die Hand aufhält, um Steuererleichterungen, Subventionen und längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Doch das Gegenteil sei der Fall, wirbt Russwurm für mehr Verständnis: „Wirtschaft will wirtschaften, transformieren, innovieren, wachsen – lassen wir sie das doch tun!“ Der Kaufmann jammert vielleicht, weil er die Verhältnisse kennt. Aber er handelt auch, weil er die Verhältnisse ändern will. Davon hat Deutschland schon immer profitiert. Da muss man noch nicht einmal die legendäre Nachkriegszeit bemühen. Es wird Zeit für ein neues Sommermärchen: Wenn Wirtschaft und Politik einander endlich unterhaken würden. Eine Aktion, die uns wohl schon in der Merkel-Ära abhandengekommen sein muss. Es wird Zeit, sie wiederzuentdecken. Das wäre eine Form des Unterhakens, mit der Bundeskanzler Olaf Scholz in die Sommerferien gehen könnte.
von Heinz-Paul Bonn 02 Apr., 2024
Man möchte reflexartig einen kleinen Skandal wittern: Nach nur drei Jahren im Amt verlässt Marianne Janik nicht nur den Posten der Deutschlandchefin bei Microsoft. Anders als ihr Vorvorgänger im Amt, Ralph Haupter, der vom Deutschlandchef zum Europachef avancierte, kehrt Marianne Janik dem Microsoft-Konzern fürs erste den Rücken und wandert in Richtung einer noch nicht näher benannten Adresse ab. Doch der Wechsel an der Spitze einer Landesgesellschaft hat bei Microsoft Methode. Schon Janiks Vorgängerin Sabine Bendiek, die vor drei Jahren den Chefposten in München in Richtung SAP verließ, war lediglich drei Jahre bei Microsoft im Amt. Den Vorstandssitz als SAP-Arbeitsdirektorin hat Sabine Bendiek allerdings inzwischen auf eigenen Wunsch auch schon wieder geräumt. Ohnehin gilt diese Führungsposition im Personalsektor bei SAP als Schlangengrube. Auch die Vorgänger von Sabine Bendiek hielten es dort nicht lange aus. Offiziell ging alles immer einvernehmlich vonstatten. Inoffiziell munkelt man dagegen, dass der Wandel des Walldorfer Softwarekonzerns zur Cloud Company personell nur äußerst schwierig zu orchestrieren sei. Verknöcherte Strukturen und das Festhalten an ihnen sind der wesentliche Hinderungsgrund für eine innere Erneuerung eines Unternehmens. Diesen Zwang zur Veränderung in Richtung Cloud und – als Konsequenz daraus – zu einer KI-gestützten Tech-Company müssen derzeit alle Unternehmen bitter bezahlen, wenn sie zu spät dran sind. Denn das Management für dieses Change Management ist rar gesät. Doch ohne Hinwendung zu digitalen Geschäftsmodellen und KI-gestützten Analysen geht selbst den Champions der Marktvorsprung verloren. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wer zu spät geht, den bestraft die Zukunft. Beim Change Management handelt es sich um eine sehr spezielle, aber in ihren Auswirkungen extrem zukunftsorientierte Form des Fachkräftemangels. Denn angesichts der Tatsache, dass praktisch jeder Geschäftsprozess heute in Software gegossen ist und jede Erkenntnis spätestens morgen mithilfe von künstlicher Intelligenz gefördert wird, verlangt der Wandel in die Cloud und den aus ihr bereitgestellten KI-Leistungen neue rar gesäte Management-Qualitäten, ebenso wie auch die Energiewende, der Klimawandel oder New Work mit variablen Arbeitszeitmodellen kürzeren Arbeitszeiten und einer völlig neu interpretierten Work/Life-Balance. Das alles ist keine leichte Aufgabe – erst Recht nicht, wenn man sich dem Wandel standhaft entgegensetzt oder zu lange mit der Nachfolge zögert. Doch während die internationalen Konzerne sich vergleichsweise leicht tun, frische Kräfte ins Unternehmensmanagement zu holen, sieht sich der Mittelstand in einer schon seit langem grassierenden Nachfolgekrise. Jeder dritte mittelständische Unternehmer ist laut einer aktuellen Studie der KfW bereits heute über 60 Jahre alt. Danach sind derzeit bereits zwei von fünf von ihnen dabei, die Firmengeschicke in jüngere Hände zu geben. Nur zwei von Fünf: Wenn jetzt – nur um ein typisches Beispiel zu nennen – der Trigema-Chef Wolfgang Grupp mit 81 Jahren die Verantwortung für den Burladinger Trikotagenbetrieb unter großem Werbe- und Medienaufwand an seine Frau und seine Kinder übergibt, die schon lange im Betrieb aktiv sind, dann zeigt dies auch, dass Loslassen ein schwieriges Element des Change Managements ist. Dies sei bei allem Respekt gegenüber der unternehmerischen Leistung von Wolfgang Grupp einmal festgestellt. Ich selbst habe mein Unternehmen möglichst früh, aber immerhin doch im Rentenalter, in jüngere Hände gegeben und dabei die Chance gesucht, neue Kräfte, neues Kapital, aber eben auch neuen Zeitgeist ins Unternehmen zu holen. Vielleicht lässt sich konstatieren, dass Microsoft-Gründer Bill Gates ein wenig zu spät die Geschicke des Softwarekonzerns in andere Hände gegeben hat und dadurch, dass sein Nachfolger aus dem eigenen Microsoft-Dunstkreis aufstieg, eben genau kein Change Management in Gang gebracht hatte. Als der aus Indien stammende Satya Nadella das Heft vor zehn Jahren in die Hand nahm, war dies zwar auch eine Person mit erheblicher Microsoft-Vergangenheit – doch sein Kulturkreis und seine Sozialisierung unterschieden sich fundamental von der eines Gates oder Ballmers. Für den deutschen Chefposten hat sich Microsoft erstens wieder für eine Person entschieden, die von außen, ja sogar von der Konkurrenz kommt. Und zweitens hat sich Microsoft erneut für eine Frau entschieden: Agnes Heftberger, die 20 lange Jahre bei IBM verbracht hat, wo sie unterschiedliche Führungspositionen in Deutschland, EMEA und in Asien innehatte. Gerade ihre Perspektive aus Down Under könnte – und sollte – hier einiges auf den Kopf stellen können. Microsofts Prinzip der Häutung alle drei Jahre könnte ein Beispiel auch für den Mittelstand sein. Es muss ja nicht gleich ein Eigentümer-Wechsel sein, aber mehr Fluktuation im Management kann ja nicht schaden. Change Management im Management ist dann vorprogrammiert.
von Heinz-Paul Bonn 25 März, 2024
Lange Zeit war im Technologiesektor alles geregelt: Die sogenannte „Weiße Ware“ – also Elektrogeräte mit Gehäuse aus weißemailliertem Blech – gehörten in die Küche, respektive Waschküche. Das Marketing musste in den fünfziger und sechziger Jahren auf die „moderne Hausfrau“ ausgelegt sein, dabei aber den „Herrn des Hauses“, der als Haushaltsvorstand das alleinige Sagen über die Finanzen hatte, positiv ansprechen. „Braune Ware“ hingegen – also meist in „Nussbaum-Furnier“ eingelegte TV-Geräte, Radios oder Plattenspieler – sollten den „technisch Interessierten“ ansprechen. Dabei waren die Produkte zunächst hochpreisig, adressierten den „gut situierten Haushalt“, und sanken in ihren Anschaffungskosten erst mit der Massenproduktion. Danach hatte sie jeder. Marketing war leicht: Schublade auf – und rein kommst du! Vielleicht lässt sich am Personal Computer Anfang der achtziger Jahre der Wendepunkt markieren, seit dem Markteinführungsstrategien komplizierter und vor allem schneller wurden. Der PC war zunächst hochpreisig, um nicht zu sagen überteuert, und für den betrieblichen Einsatz ausgelegt. Dort konnte die Investition steuerlich abgeschrieben werden und „rechnete“ sich – auch wenn am PC kaum mehr getan wurde als man hätte auch an einer Schreibmaschine erledigen können. Dann wurde der PC massenmarktfähig, und völlig andere Nutzenargumente mussten her: Spaß, Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, Flexibilität, Modernität. Und dann hatte ihn jeder. Seitdem, so kann man sagen, wird Technologie immer schneller zum Massenprodukt. Und seit das Internet der vorrangigste Vertriebsweg für „softe Ware“ ist, ist der Massenmarkt der Einstiegsmarkt. Das Produkt reift nach dem „Prinzip Banane“ beim Kunden und wird dann erst Business-tauglich. Bestes Beispiel: ChatGPT, der KI-gestützte Sprachassistent von OpenAI. Das Tool wurde von Anfang an für angemeldete Nutzer kostenlos zur Verfügung gestellt. Handbücher und Anleitungen gab es zunächst nicht. Jeder machte seine eigenen Erfahrungen mit künstlicher Intelligenz und kommunizierte sie. 60 Prozent der erwachsenen Deutschen hatten laut Hightech-Verband Bitkom ein halbes Jahr nach der Erstveröffentlichung von ChatGPT nach eigenem Bekunden schon mal Kontakt mit KI. Erst dann erfolgte die Eignungsprüfung fürs Büro und in der Produktion. Wo OpenAI und deren Hauptfinanzier Microsoft vorangingen, folgten die anderen Tech-Giganten mit Hochgeschwindigkeit: Allen voran Google und sein Mutterkonzern Alphabet blasen zur Aufholjagd, obwohl – wie Microsofts CEO Satya Nadella kürzlich sinnierte – die Kalifornier alles hatten, um als erste den Markteintritt für KI zu wagen. Eines der wichtigsten und faszinierendsten Vorzeigeprojekte von Google ist DeepMind, das 2010 in Großbritannien gegründet und vier Jahre später von Google übernommen wurde. Furore machte etwa AlphaGo als Beispiel für maschinelles Lernen. Die KI, die ausschließlich darauf spezialisiert war, Go zu spielen, schlug 2015 erstmals den Europameister Fan Hui. Das Nachfolgeprodukt AlphaZero erarbeitete sich bereits die Go-Regeln und Spielzüge selbst und besiegte 2017 AlphaGo in einem „KI-Ko-Turnier“ 100 zu Null. Andere DeepMind-Projekte brillierten bei der Analyse von Patientendaten aus dem britischen National Health System, um bei der Überwachung von Patienten mit Nierenschädigungen zu assistieren. Mustererkennung wiederum kam im englischen Fußball zum Einsatz, wo die Laufwege von Kickern aus der Premier League analysiert wurden, um die Torwahrscheinlichkeit berechnen zu können. Und im vergangenen Jahr entdeckte eine weitere DeepMind-Ausgeburt im Rahmen eines materialwissenschaftlichen Projekts 2,2 Millionen neue Kristall-Kombinationen, darunter 300.000 stabile Materialien, die zukünftig im Maschinen- und Apparatebau, bei neuen Leichtbauten oder im Bau von neuen, leistungsfähigeren Batterien genutzt werden könnten. Das alles war Leading Edge und Bleading Edge – an der Weltspitze von Forschung und Entwicklung. Das einzige, was Google nicht tat (und das ist eigentlich ein Rätsel), war die Einführung eines massenmarkttauglichen Produkts mit dem Erfolgspotenzial von Google Search oder Google Maps. Es wird wohl als künftiges Paradebeispiel für das „Innovator´s Dilemma“ in die Marketing-Bücher Einzug finden – also für die Unfähigkeit eines Marktführers, rechtzeitig einen Nachfolger (und Konkurrenten) für seine Cash Cow zu etablieren. Jetzt kooperiert Google mit Apple, um mit dem von Microsoft vorgelegten Tempo bei der KI-Einführung im Massenmarkt Schritt zu halten. Doch gleichzeitig wechselt einer der Gründer von DeepMind, Mustafa Suleyman, zu Microsoft, um dort den Bereich „Consumer AI“ aufzubauen. Noch ist nicht klar, wie viel Energie, Machtbefugnis und Machtmittel der Neue bei Microsoft erhält. Doch eines ist klar: Microsoft will über die Einführung der Copiloten in nahezu allen seinen Lösungsangeboten hinaus den Konsumermarkt bedienen. Dieser Massenmarkt ist zweigeteilt: Er besteht nicht nur aus Einzelpersonen, die als Konsumenten KI auf dem Smartphone, in Computerspielen, bei der Arbeit im Home Office oder bei der Steuerklärung nutzen. Er besteht auch aus den Hunderten Millionen Kleinbetrieben – angefangen beim Handwerk über Anwaltskanzleien und Arztpraxen bis zu Startups in der Seedphase. Sie alle dürften in den kommenden Monaten Zugriff auf KI als „maßgeschneiderte Massenware“ erhalten. Der „Tipping Point“, bei dem aus einem Hype für Wenige ein Prozess entsteht, aus dem heraus „eine signifikante und oft unaufhaltsame Wirkung oder Veränderung stattfindet“, wie man im Merriam-Webster nachlesen kann, steht uns bevor. Danach ist KI ein Massenprodukt. Doch anders als bei weißer und brauner Ware wird der Markt nicht mehr hochpreisig begonnen, sondern von unten aufgerollt. Dabei geht es vor allem darum, wer schneller ist.
von Heinz-Paul Bonn 18 März, 2024
Vlad Latas Bilanz fällt besorgniserregend aus: „Es gibt zu wenige Ärzte – und rund die Hälfte der medizinischen Fachkräfte werden in den nächsten zehn bis 15 Jahren in den Ruhestand gehen. Schon heute haben wir zu viele Patienten, und die Gruppe der über 67-Jährigen wird bis 2035 von 16 auf 20 Millionen wachsen. Parallel verdoppelt sich alle 73 Tage das medizinische Wissen, was kein Arzt mehr ohne digitale Hilfsmittel verarbeiten kann.“ Noch besorgniserregender ist allerdings, was Lata, Mitgründer und CEO von Avi Medical, einem Betreiber von bundesweit 17 Hausarztpraxen, an Shitsorm für sein Plädoyer zugunsten eines konsequenteren Einsatzes von künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen erntete, das er auf der Nachrichtenplattform „Welt Online“ am 29. Februar veröffentlicht hatte: „Wann bekommt man dann Post von Big Brother, dass man … seinen Social Score nicht erfüllt und daher in einer Rehabilitationseinrichtung vorstellig werden muss oder das Doppelte an Beitrag an der Krankenkasse zu bezahlen hat?“ Der Beitrag ist noch einer der harmloseren, zeigt aber ideal auf, wie weit Einsatz und Ressentiments von künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen derzeit – vor allem im Land der Nörgler und Neider – noch auseinanderklaffen. Dabei hat Vlad Lata nichts Revolutionäres vorgeschlagen, sondern nur konstatiert, dass KI als zentrales Steuerungselement Daten analysiert und dem Arzt als zuverlässiger Copilot zur Seite steht. „Durch ihre kognitiven Fähigkeiten erleichtert sie Entscheidungsprozesse und optimiert die individuelle Patientenversorgung.“ Selbst in der Ärzteschaft ist der Einsatz von KI noch immer umstritten, wenn überhaupt fundiertes Wissen über die Möglichkeiten von KI im Gesundheitswesen existiert. Zwar analysieren KI-Systeme schon seit mehr als einem Jahrzehnt Röntgenbilder, helfen bei der Suche nach neuen Wirkstoffen oder analysieren klinische Studien nach nicht offensichtlichen Erkenntnissen. Doch „zu Risiken und Nebenwirkungen“ fragen Sie derzeit am besten noch nicht Ihren Arzt, Ihre Ärztin oder in Ihrer Apotheke, sondern blättern lieber in IT-Zeitschriften. Eine Blitzumfrage in meinem persönlichen Ärzteumfeld jedenfalls machte deutlich, dass auch hier mitunter Nachholbedarf besteht. Dabei gibt es schon heute vielfältige Einsatzmöglichkeiten, ohne dass dabei immer gleich die elektronische Patientenkarte, die für viele Wutbürger offensichtlich immer noch als Einstieg in den Überwachungsstaat gilt, bemüht werden muss: · Krankheitsdiagnose und -erkennung: KI-Modelle werden entwickelt, um Vorhersagemodelle für die Diagnose und Erkennung von Krankheiten zu erstellen. · Behandlungsplanung und Entscheidungsfindung: KI kann Ärzte bei der Planung von Behandlungen und der Entscheidungsfindung unterstützen. · Arzneimittelforschung und -entwicklung: KI hilft bei der Identifizierung potenzieller Wirkstoffe und der Beschleunigung des Forschungsprozesses. · Medizinische Bildgebung und Analyse: KI-Algorithmen können medizinische Bilder wie Röntgenaufnahmen oder MRT-Scans analysieren und Anomalien erkennen. · Remote Patient Monitoring: KI-basierte Systeme ermöglichen die Überwachung von Patienten außerhalb des Krankenhauses, zum Beispiel durch Wearables oder mobile Apps. Und das sind nur die – zum Teil schon seit Jahren bekannten – Basisfunktionen, bei denen künstliche Intelligenz dem Arzt oder der Ärztin bei der täglichen Arbeit helfen kann. Doch weit oberhalb dieser Chancen werden derzeit anspruchsvolle Projekte angestoßen, die zum Beispiel nicht weniger zum Ziel haben als die Verlängerung des Lebens, wenn nicht gar Unsterblichkeit. Google hat sogar eine eigene Tochterfirma zur Erforschung dieser Ziele gegründet. Es geht um die Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt altern. Dass damit auch ethische Fragestellungen berührt werden, ist einer der Gründe für die bestehenden Ressentiments. Microsoft hat deshalb jetzt mit Health-Organisationen wie dem Boston Children´s Hospital und der Johns Hopkins Universität sowie vielen anderen Kliniken und Universitäten eine TRAIN genannte Arbeitsgruppe gegründet, die Richtlinien für verantwortungsvolle und zuverlässige KI-Lösungen erarbeiten soll. Denn eine KI kann immer nur so gut sein wie ihre Algorithmen – und die werden von Menschen gemacht. KI steht für ein großes Versprechen im Gesundheitswesen: Medizinisches Fachwissen kann jedem Patienten auf dieser Welt zugutekommen, egal ob er in einer Arztpraxis auf dem Land, in einer Spezialklinik in der Stadt oder auf einem Medizinschiff am Golf von Guinea ärztlichen Rat benötigt. Mit KI entwickelt sich die Medizin von einer überwiegend intuitiven Fachrichtung zur exakten Wissenschaft. Sie überwindet Ärztemangel ebenso wie den Mangel an Pflegepersonal und stellt den Patienten in den Mittelpunkt. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen wir aber besser nicht die Nörgler und Nörglerinnen in diesem Land, die uns in eine Zeit von vor hundert Jahren zurückwünschen.
von Heinz-Paul Bonn 11 März, 2024
Forscherinnen und Forscher des Earth Species Project sind überzeugt: In spätestens 24 Monaten werden sie mit Hilfe von künstlicher Intelligenz in der Lage sein, Tierstimmen zu entschlüsseln. Das Projekt läuft bereits seit einem guten Jahrzehnt – doch erst jetzt kommt mit KI-Unterstützung eine ganz neue Qualität in die Sache. „Niemand ist bislang auf die Idee gekommen, Maschinen darauf zu trainieren, nicht-menschliche Kommunikation zu deuten“, sagt Aza Raskin, der das Projekt mitbegründet hat. Und er fügt reichlich philosophisch hinzu: „Man kann nichts verstehen, was man nicht erkennt.“ Das ist natürlich eine fundamentale Wahrheit, die für alles und jeden gilt. Aber sie gilt ganz besonders für den Umgang mit künstlicher Intelligenz: Es ist entscheidend für den Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutschland, dass sich mehr Menschen mit dem Einsatz von KI, ihrer Funktionsweise, ihrem Nutzenpotenzial, ihren Risiken und ihren ethischen Komplikationen auseinandersetzen. Dass Microsoft im Rahmen seines Drei-Milliarden-Investments in Deutschland auch rund 1,2 Millionen Menschen in Sachen KI qualifizieren will, ist in den Medien meist nur einen Nebensatz wert. Tatsächlich dürfte dieser Teil des Projekts aber der Nachhaltigere sein, der sich auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands positiv auswirkt. Gleichzeitig ist es peinlich genug für das Bildungsland Deutschland, dass für eine solche Maßnahme die Hilfe eines US-Unternehmens in Anspruch genommen werden muss. Dabei sollte es kaum einen dringlicheren Bildungsauftrag geben. Denn die Beispiele, in denen der Einsatz von künstlicher Intelligenz zu wissenschaftlichen Durchbrüchen, zu neuen Therapiemöglichkeiten oder zu mehr Qualität in der Produktion führt, finden sich täglich in den Nachrichten. Dass KI dabei helfen kann, neue Wirkstoffe für neue Arzneimittel zu finden, ist ein vielgenanntes Beispiel. Dass Forschende aber mit Hilfe künstlicher Intelligenz neue Materialien für leistungsfähige Batterien aus 32 Millionen Kandidaten herausfiltern konnten und jetzt Alternativen für die gängigen, aber umweltschädlichen Lithium-Ionen-Batterien gefunden haben, zeigt die Wirkmächtigkeit von KI. Um den hohen Rechenaufwand überhaupt in absehbarer Zeit meistern zu können, wurde zusätzlich der über die Microsoft Azure-Plattform verfügbare Quantencomputer genutzt. Deutlich praxisnäher ist die App des deutschen Startups PlanerAI, die Bäckereien dabei hilft, nicht nur die richtigen Mengen an Rohstoffen einzukaufen, sondern anhand der Absatzzahlen auch genauer prognostiziert, was und in welchen Mengen für den nächsten Tag produziert werden sollte. Und während die Wetterstationen weltweit immer engmaschiger werden und Myriaden an Daten liefern, zeigt sich, dass angesichts des Klimawandels bestehende Wettermodelle nicht mehr ausreichen. Zudem lassen sich erhebliche Unterschiede im lokalen Wetter beobachten – beispielsweise bei Starkregen. KI-Systeme errechnen anhand unterschiedlicher Wettermodelle und auf der Basis der aktuellen Daten im Minutentakt neue Prognosen – und daran sind nicht nur Touristen interessiert, sondern mehr und mehr Risikoversicherer, Katastrophenschützer und Forscher. Beispiele wie diese müssten eigentlich Ansporn genug sein, tiefer in Digitalen-Themen im Allgemeinen und den KI-Einsatz im Besonderen einzusteigen. Doch das Gegenteil ist der Fall wie eine aktuelle Vergleichsstudie zeigt. Danach verfügen nur 52 Prozent der Deutschen über grundlegende Digitalfähigkeiten. Im EU-Durchschnitt sind es 55 Prozent. Unter den Akademikern beträgt der Anteil der digital Qualifizierten in Deutschland zwar 72,2 Prozent. Er liegt aber noch deutlicher unter dem EU-Durchschnitt von 79,6 Prozent als in den Gruppen der Menschen mit einer nur geringen oder mittleren formalen Bildung. Hoffen wir, dass die Deutschen ihr Qualifikationsprojekt schneller meistern als die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Earth Species Project. Es geht darum, bisher unbekannte Digital-Technologien zu erkennen, zu erkunden und dadurch zu verstehen. Auch wenn dahinter die wenig schmeichelhafte Erkenntnis stehen sollte, dass das Gejaule eines Hundes eigentlich das Gemaule eines Pubertisten ist: „Du hast mir gar nichts zu befehlen!“ Wir werden dank künstlicher Intelligenz noch so manchen Heureka-Moment erleben. – Vorausgesetzt, wir bereiten uns auf den verantwortungsvollen Umgang mit KI vor und nutzen diese Systeme nicht nur, um Emails für uns zu schreiben und bunte Bildchen zu produzieren. Es wird Zeit, verantwortungsvoll mit unserer Zukunft umzugehen.
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